Gute Noten für den Bürgerrat

Im Januar und Februar 2021 hat der Bürgerrat "Deutschlands Rolle in der Welt" unter der Schirmherrschaft von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble getagt. 152 zufällig ausgeloste Menschen aus der ganzen Bundesrepublik berieten in zehn Online-Sitzungen über außenpolitische Handlungsempfehlungen für Bundestag und Bundesregierung. Ein am 20. Mai 2021 vorgestellter Evaluationsbericht vergibt insgesamt eine gute Bewertung für die Durchführung der zweiten bundesweiten Losversammlung. Außerdem zeigen eine Handreichung und ein Rechtsgutachten Wege zur zukünftigen Gestaltung von Bürgerräten auf Bundesebene auf.

Evaluationsbericht

Die Vorbereitung und Durchführung des Bürgerrates wurden von Beteiligungsexpertinnen und -experten des Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) Potsdam sowie des Instituts für Demokratie- und Partizipationsforschung (IDPF) der Bergischen Universität Wuppertal begleitet.

Vertreterinnen und Vertreter beider Institute waren so z.B. beobachtend bei den Online-Sitzungen des Bürgerrates dabei. Bereitgestellte Materialien und Online-Werkzeuge wurden betrachtet und bewertet. Die ausgelosten Teilnehmer:innen wurden in Gesprächen und per Fragebogen um Rückmeldung zu ihren Erfahrungen beim Bürgerrat gebeten. Auch die Organisatorinnen und Organisatoren des Bürgerrates und politische Akteurinnen und Akteure wurden befragt.

Bei der Evaluation ging es darum, das Format Bürgerrat zu untersuchen und wissenschaftliche Impulse für die Einführung dieses Demokratie-Instruments auf Bundesebene zu geben. Der Evaluationsbericht fasst die Ergebnisse zusammen.

Wichtige Ergebnisse

  • Bei den Kriterien Geschlecht, Alter, Regionalproporz, Bildungsstand und Migrationshintergrund wurde eine annähernd repräsentative Zusammensetzung des Bürgerrates erreicht. Der Anteil der Menschen mit Hauptschulabschluss konnte im Vergleich zum 2019 durchgeführten Bürgerrat Demokratie (7 Prozent) zwar gesteigert werden, lag mit 10,6 Prozent aber immer noch deutlich unter dem Anteil an der Gesamtbevölkerung (28,6 Prozent). Weniger politiknahe Gruppen zur Teilnahme zu bewegen bleibt eine Herausforderung.

  • Im Prozess selbst funktioniert die Beteiligung aller gut. Die inklusive, gleichberechtigte, aktive Teilnahme aller Ausgelosten war gewährleistet, insbesondere durch eine klar und fair strukturierte Diskussion und die Moderation, die z.B. auf eine möglichst variierende Reihenfolge und ausgeglichene Redeanteil achtete.

  • Das gesamte politische Meinungsspektrum konnte sich artikulieren, letztlich haben sich aber gemäßigtere und eher gemeinwohlorientierte Positionen durchgesetzt. Es überwogen demokratiefreundliche, progressive und nachhaltigkeitsbetonte Ansichten. Trotzdem wurden besonders in den kleineren Gruppen auch Ansichten geäußert, die das gesamte Spektrum vom linken, progressiven über das konservative bis in das eher rechte Meinungsspektrum widerspiegeln.

  • Das Online-Format brachte eher Vor- als Nachteile mit sich. Die Hälfte der Befragten hatte vor dem Prozess nie an Videokonferenzen teilgenommen, der Lerneffekt war dementsprechend hoch. Nach dem Prozess wurde das Online-Verfahren noch positiver bewertet als vorher.

  • Bzgl. der Durchführungsqualität wurde der Prozess als fair wahrgenommen hinsichtlich von 1. gleichwertigen Chancen, die eigene Meinung zu äußern, 2. respektvollem Umgang der Teilnehmenden untereinander, 3. Der Möglichkeit, frei zu sprechen und gehört zu werden, 4. Der Wirksamkeit der eigenen Argumente. Besonders positive Bewertung gab es von Schülerinnen und Schülern und Menschen mit Hauptschulabschluss. Dies weist auf eine hohe Inklusion und Fairness hin.

  • Ein Großteil der Befragten interessierte sich nach dem Bürgerrat deutlich stärker für das Thema deutsche Außenpolitik. Fast alle Befragten gaben außerdem an, viel über das Thema gelernt zu haben. Fast 70 Prozent der Teilnehmenden änderten ihre Meinung in Einzelfragen (vor allem bei den Themen Exportpolitik und China).

  • Eine Mehrheit der Teilnehmenden erwartet keine 1/1-Umsetzung der Empfehlungen. 89 Prozent wünschen sich jedoch mehr politische Verbindlichkeit im Umgang mit Bürgerrat-Ergebnissen.

Der Evaluationsbericht kommt zu dem Schluss, dass Bürgerräte ein geeignetes Verfahren für die kooperative und konstruktive Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern auf Bundesebene sind, sofern eine Reihe von Bedingungen erfüllt sind. Dazu gehören die Einbindung politischer Akteur:innen, eine Anbindung an Gesellschaft und Medien, eine große Meinungsvielfalt, eine geeignete Themenauswahl und Schwerpunktsetzung, eine geeignete Einbindung des Wissens von Expertinnen und Experten, eine ausgeprägte Beratungskultur sowie ausreichende finanzielle und zeitliche Ressourcen.

Handreichung

In der Handreichung wird von den Evaluationsteams begründet, warum geloste Bürgerräte eine sinnvolle Ergänzung zur repräsentativen Demokratie sind. Außerdem werden Empfehlungen an die Politik zur Einführung losbasierter Bürgerräte auf Bundesebene formuliert. Die Grundannahme dabei: Das politische System der Bundesrepublik wurde seit den 70er Jahren nur minimal verändert und bedarf angesichts großer gesellschaftlicher Veränderungsprozesse einer Anpassung. Ein stärkerer Austausch der politischen Institutionen mit der Bevölkerung und neue Formen dafür sind notwendig.

Die Handreichung empfiehlt, beim Bundestag eine Organisationseinheit Partizipative Demokratie einzurichten. Sowohl die Politik als auch die Zivilgesellschaft sollten Bürgerräte anstoßen können. Das Thema sollte politisch relevant und brisant sein und diverse Handlungsmöglichkeiten bieten. Außerdem werden Vorschläge zum Losverfahren, zur Moderation, zum Input von Expertinnen und Experten, zur Einsetzung und Koordination von Bürgerräten sowie zu deren Evaluation gemacht. Auch gibt es Hinweise zum Umgang mit Bürgerrat-Ergebnissen, zur Verstetigung der Nutzung dieses Demokratie-Instruments und zu dessen Einbettung in die parlamentarischen Verfahren.

Rechtsgutachten

Prof. Dr. Jan Ziekow von der Universität Speyer hat ein Rechtsgutachten erstellt, um die rechtlichen Rahmenbedingungen des Tätigwerdens von losbasierten Bürgerräten in ergänzender Funktion zur Beschlussfassung durch den Deutschen Bundestag zu überprüfen. Danach sind drei Formen der Initiierung von Bürgerräten denkbar: 

a) Initiierung durch das Parlament

b) Initiierung durch die Bundesregierung

c) Initiierung durch die Bürgerschaft/Bürgerrat-Initiative

Ergebnisse: Die Initiierung von Bürgerräten durch den Bundestag ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Bürgerräte können aber keine für das Parlament bindende Wirkung entfalten. Per Gesetz oder Geschäftsordnung kann aber eine Befassung des Parlaments mit Bürgerrat-Ergebnissen und eine Verpflichtung zur Stellungnahme zum Verfahrensstand und zur Art der Umsetzung geregelt werden. Ein Bericht an die Bürgerrat-Mitglieder darüber, was warum umgesetzt wurde, bedürfte dagegen einer Verfassungsänderung.

Eine Bürgerrat-Initiative aus der Bevölkerung könnte für den Bundestag nicht verpflichtend (danach KANN ein Bürgerrat durchgeführt werden) oder verpflichtend (danach MUSS ein Bürgerrat durchgeführt werden) sein. Eine nicht verpflichtende Bürgerrat-Initiative („mit Impulswirkung“) macht ähnlich wie eine Petition einen Vorschlag. Das Verfahren muss nicht im Grundgesetz verankert werden. Die Bürgerrat-Initiative könnte per Richtlinie, Regelung in der Geschäftsordnung des Bundestags oder Gesetz veranlasst werden.

Für eine Bürgerrat-Initiative erscheint eine Hürde von 200.000 Unterschriften angemessen, da es nicht um eine Sachempfehlung (wie bei einer Volksinitiative) geht, sondern erst einmal nur um deren Vorbereitung. Eine verpflichtende Bürgerrat-Initiative müsste im Grundgesetz verankert werden. Sie sollte von der notwendigen Unterschriftenzahl unter der eines Volksbegehrens liegen, aber über der einer nicht-verbindlichen Bürgerrat-Initiative. Hier scheinen 500.000 Unterschriften angemessen.

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